PRESSEMITTEILUNG - BERLIN, 04.04.2016 Schrittweise Marktzulassung bei Arzneimitteln: Prinzip Hoffnung darf Prinzip Sicherheit nicht verdrängen

GKV-Spitzenverband

Portrait von Herrn Johann-Magnus v. Stackelberg, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes

Johann-Magnus v. Stackelberg

Auf europäischer Ebene wird derzeit diskutiert, den Zulassungsprozess von neuen Arzneimitteln deutlich zu verkürzen und dafür bisherige Zulassungsstandards für Hersteller zu senken. Vor allem Patienten mit schweren Erkrankungen und fehlenden Therapieoptionen sollen von einem früheren Zugang profitieren, argumentieren Unterstützer dieser Pläne. Aus Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung ist jedoch Vorsicht geboten: „So verständlich die Hoffnung auf Heilung oder Linderung einer Krankheit durch neue Arzneimittel ist, sie darf nicht mit einer partiellen Abkehr vom Grundsatz Sicherheit als Bedingung für die Marktzulassung erkauft werden“, warnt Johann-Magnus v. Stackelberg, stv. Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes.

Aus Sicht des GKV-Spitzenverbandes muss eine solide wissenschaftliche Evidenzgrundlage für die Prüfung von Wirksamkeit und Risiko von neuen Arzneimitteln vor ihrer Zulassung weiterhin oberste Priorität haben. „Wir dürfen nicht hinter den Sicherheitsstandard zurückfallen, den der Gesetzgeber aufgrund der leidvollen Erfahrungen mit dem Contergan-Skandal in den 1970er Jahren gesetzt hat. Robuste, vergleichende Phase-III-Studien sind zentral, um die vom Hersteller behauptete Wirksamkeitsannahme zu bestätigen und mögliche schwere Nebenwirkungen unter intensiver medizinischer Betreuung der freiwilligen Studienteilnehmer zu erkennen, bevor das Produkt in der breiten Regelversorgung eingesetzt wird. Beschleunigte Zulassungen von Arzneimittel müssen daher Ausnahmen für echte medizinische Versorgungslücken bleiben. Nur hier ist es zu rechtfertigen, dass der sehr frühe Marktzugang mögliche Fehleinschätzungen zu Wirksamkeit, Risiken und Nebenwirkungen aufgrund der dünnen Datenlage zum Zeitpunkt der Zulassung mit sich bringt“, so v. Stackelberg.

Bisherige Erfahrungen zeigen Probleme: Industrie liefert kaum Daten

Bereits heute hat die europäische Zulassungsbehörde (EMA) mehrere Möglichkeiten, bei der Zulassung von neuen Arzneimitteln den Zugang von Patienten zu neuen Arzneimittel zu beschleunigen (z. B. die bedingte Marktzulassung oder die Marktzulassung unter besonderen Umständen). Im Frühjahr 2014 hat die EMA ein Pilotprojekt („Adaptive Pathways“) gestartet, um die bereits bestehenden Sonderwege unter einem einheitlichen Konzept einer beschleunigten Marktzulassung von Arzneimitteln trotz limitierter Datenbasis zusammenzuführen. Das neue Arzneimittel würde danach entweder zunächst nur für eine kleine Patientengruppe mit einer medizinischen Versorgungslücke zugelassen werden. Oder es würde eine bedingte Zulassung auf Basis einer unsicheren Datenlage erteilt werden. Die konventionellen Nachweisstandards für Zulassungen würde die EMA in diesen Fällen absenken. Unter anderem soll gerade die für Sicherheitsfragen besonders relevante Phase III-Studie, also vergleichende Tests mit einer größeren Personengruppe, vor Erteilung der Zulassung nicht mehr zwingend notwendig sein. Im Gegenzug verpflichtet sich der Unternehmer, nach der Zulassung ergänzende Studien zur Sicherheit und Wirksamkeit nachzureichen. Liegen mit der Zeit ausreichende Daten vor, will die EMA die zunächst bedingte Zulassung zu einer „Vollzulassung“ hochstufen oder das anfangs begrenzte Einsatzgebiet sukzessive um zusätzliche Anwendungsgebiete erweitern.

Bisherige Erfahrungen bei den schon derzeit möglichen beschleunigten Zulassungen zeigen jedoch, dass versprochene Studienergebnisse von Herstellern nicht, zeitlich verzögert oder mit qualitätsmindernden Abweichungen von den ursprünglichen Auflagen eingereicht werden. Zwischen Januar 2006 und Juni 2015 ließ die EMA 490 Arzneimittel zu, davon erhielten 26 eine bedingte Zulassung. Von diesen 26 Arzneimitteln wurden nur zehn auf Basis der vom Hersteller nachgelieferten Daten in eine reguläre Zulassung überführt (38,5 Prozent). Im Durchschnitt dauerte es bis zur Hochstufung zur Vollzulassung fünf Jahre, in denen Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels nicht auf regulärem Niveau abgesichert waren. Zu beobachten ist, dass die EMA ihre vor Zulassung formulierten Studienauflagen im Nachgang absenkt. In keinem Fall wurde wegen nicht erfüllter Auflagen die Zulassung entzogen; unbekannt ist, ob anderweitige Sanktionen verhängt wurden.

Verspätete Abgabe von Studien muss sanktioniert werden

„Wir müssen sicherstellen, dass die pharmazeutischen Unternehmen die versprochenen Studien nach Zulassung wirklich liefern und dies auch in einer Qualität, wie es Sicherheit und Versorgungsanspruch der Patienten erfordern“, mahnt v. Stackelberg. „Wenn die Zulassungsebene den Anspruch auf Studienlieferungen nicht effektiv durchsetzt, müssen es die nationalen Sozialversicherungssysteme tun.“ Der GKV-Spitzenverband schlägt daher eine angepasste Erstattung auf Basis verpflichtend zu wiederholender Nutzenbewertungen vor. Legt der Unternehmer nach Ablauf der Vorlagefrist die geforderten Studien nicht vor, wird die Erstattung angemessen beschränkt.

Angesichts der bereits weit fortgeschrittenen Pläne der EU dämpft v. Stackelberg grundsätzlich die Erwartungen an die Erstattungshöhe solcher schrittweise zugelassenen Arzneimittel. Je weniger Daten bei der Zulassung vorlägen, desto dünner sei die Basis für die Erstbewertung und damit auch ein mögliches Zusatznutzenvotum durch den Gemeinsamen Bundesausschuss. V. Stackelberg: „Eine schrittweise Zulassung kann daher nur eine am jeweiligen Wissensstand angepasste Erstattungshöhe bedeuten, die die größere Unsicherheit beim Zusatznutzen berücksichtigt.“

Richtige Konsequenzen aus einer schrittweisen Zulassung ziehen

Setzt sich die schrittweise Marktzulassung bei neuen Arzneimitteln durch, muss sich auch die Arzt-Patienten-Kommunikation anpassen. „Patienten wie Ärzte haben einen Anspruch darauf, zu wissen, welches Risiko von Neben- und Wechselwirkungen sie eingehen. Die mit dieser Zulassungsart verbundene größere Unsicherheit muss an Patienten und Ärzte kommuniziert werden. Und zwar viel gezielter und breiter als es heute passiert“, so v. Stackelberg.

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