Wie in kaum einem anderen medizinischen Bereich konnten bei der Versorgung mit Arzneimitteln in den letzten Jahrzehnten erhebliche therapeutische Fortschritte erzielt werden. Zugleich steigen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel seit Jahrzehnten trotz aller Versuche des Gesetzgebers diese einzudämmen. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) aus dem Jahr 2010 widmete sich dieser Problematik mit einer grundlegenden Neustrukturierung. Der deutsche Gesetzgeber erhielt dabei den schnellen und umfassenden Zugang aller Patientinnen und Patienten zu jedem neuen erstattungsfähigen Arzneimittel unmittelbar nach Zulassung und Markteintritt aufrecht - anders als in vielen anderen europäischen Ländern, in denen die Arzneimittelausgabeneindämmung auch über eine Beschränkung des Zugangs zu Arzneimitteln erfolgt. Zur Eindämmung des Ausgabenanstiegs wurde die zuvor nahezu unbeschränkte Freiheit der pharmazeutischen Unternehmer, die Preise für ihre neuen Arzneimittel zu bestimmen, auf das erste Jahr nach Inverkehrbringen auf den deutschen Markt beschränkt. An Stelle eines einseitig bestimmten Preises – sei es durch freie Entscheidung des Unternehmers oder hoheitliche Festsetzung – wurden zwei Verfahren unter Einbindung einer Vielzahl an Beteiligter etabliert, die zu einer angemessenen Vergütung des pharmazeutischen Unternehmers wie zu einer angemessenen Ausgabenbelastung für die GKV führen sollen. Orientierungsmaßstab hierfür soll der nachgewiesene therapeutische Effekt des Arzneimittels für den Patienten im Vergleich zu einer etablierten Standardtherapie sein, der sogenannte „Zusatznutzen“. Diese beiden Verfahren sind die Nutzenbewertung nach § 35a SGB V und die Findung eines angemessenen Erstattungsbetrages nach § 130b SGB V.

Der Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) unterliegen alle erstattungsfähigen Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen und neuen Wirkstoffkombinationen, die ab dem 1. Januar 2011 erstmals in Deutschland in den Verkehr gebracht worden sind und wenn für ein bekanntes Arzneimittel eine neue Zulassung mit neuem Unterlagenschutz erteilt wurde. Die Nutzenbewertung findet innerhalb der ersten sechs Monate, nachdem das Arzneimittel vom pharmazeutischen Unternehmer in den deutschen Markt eingeführt wurde, statt. Gegenstand des Verfahrens beim G-BA ist, ob das Arzneimittel einen zusätzlichen patientenrelevanten therapeutischen Effekt („Zusatznutzen“) gegenüber der bisherigen Standardbehandlung für die jeweilige Erkrankung („zweckmäßige Vergleichstherapie“) hat. Der G-BA wertet dabei insbesondere als Zusatznutzen, wenn durch das Arzneimittel eine zusätzliche Verlängerung des Überlebens, Verbesserung des Gesundheitszustands, Verkürzung der Krankheitsdauer, Verringerung von Nebenwirkungen oder eine Verbesserung der Lebensqualität im Vergleich zur bisherigen zweckmäßigen Vergleichstherapie in dem zugelassenen Anwendungsgebiet des Arzneimittels festgestellt werden kann.
Grundlage für diese Bewertung bildet eine vom pharmazeutischen Unternehmer einzureichende Nachweis- und Unterlagensammlung („Dossier“), in dem insbesondere Daten, die auch bei der Zulassung des Arzneimittels zugrunde lagen, sowie Daten aus weiteren nutzenbewertungsrelevanten klinischen Studien zu diesem Arzneimittel enthalten sind. Pharmazeutische Unternehmen haben die Möglichkeit, bereits vor Planung einer Studie oder Beginn des Nutzenbewertungsverfahrens eine Beratung durch den G-BA in Anspruch zu nehmen, z.B. zu Fragen der zweckmäßigen Vergleichstherapie oder patientenrelevanten Endpunkten im jeweiligen Anwendungsgebiet.
Das Dossier wird einer wissenschaftlichen Bewertung unterzogen, welche in der Regel vom Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) durchgeführt wird. Maßstab für die Nutzenbewertung bildet der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse; methodisch folgt die Bewertung den internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin. Diese Nutzenbewertung wird drei Monate nach Beginn des Verfahrens veröffentlicht. Pharmazeutische Unternehmer, Fachgesellschaften, Verbände, und medizinische Sachverständige erhalten die Gelegenheit, schriftlich und mündlich zu dem Ergebnis der Nutzenbewertung Stellung zu nehmen und ggf. weitere Daten einzubringen.
Innerhalb von weiteren drei Monaten fasst der G-BA einen Beschluss auf Basis der Nutzenbewertung und der eingebrachten Stellungnahmen. Darin stellt der G-BA u.a. das Ausmaß (geringerer Nutzen bis hin zu einem erheblichen Zusatznutzen) und die Aussagewahrscheinlichkeit (Anhaltspunkt, Hinweis, Beleg) des Zusatznutzens fest. Weitere Inhalte des Beschlusses des G-BA sind u.a. die Jahrestherapiekosten des bewerteten Arzneimittels und dessen zweckmäßiger Vergleichstherapie, Patientenzahlen sowie Vorgaben zur qualitätsgesicherten Anwendung.
Reicht der pharmazeutische Unternehmer innerhalb einer bestimmten Frist kein Dossier oder ein formal unvollständiges Dossier ein, gilt der Zusatznutzen als nicht belegt. Reserveantibiotika oder Arzneimittel, durch die den gesetzlichen Krankenkassen nur geringfügige Ausgaben entstehen, können auf Antrag von der Dossierpflicht freigestellt werden. Für Arzneimittel für seltene Leiden („Orphan drugs“) sowie für von der Dossierpflicht entbundene Reserveantibiotika gilt der Zusatznutzen aufgrund gesetzlicher Fiktion als belegt.
Das dargestellte Verfahren legt den Fall eines erstmals in den deutschen Markt eingeführten Arzneimittels mit neuem Wirkstoff zugrunde. Es gibt weitere Fallkonstellationen mit ggf. abweichenden Verfahren wie beispielsweise den Fall von Neubewertungen aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, der Überschreitung der 50 Mio. Grenze bei Orphan Drugs oder aufgrund einer Erweiterung der Zulassung um neue Anwendungsgebiete. Die Voraussetzungen und Anforderungen der Nutzenbewertung können im Einzelnen der gesetzlichen Regelung des § 35a SGB V sowie der Verordnung über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a Absatz 1 SGB V entnommen werden.
An die Veröffentlichung des Nutzenbewertungsbeschlusses schließt sich eine weitere sechsmonatige Phase der Preisbildung an. In regelhaft vier Verhandlungsterminen innerhalb von sechs Monaten sollen der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) und der pharmazeutische Unternehmer für das Arzneimittel den in Deutschland geltenden Abgabepreis für das Arzneimittel, den sog. „Erstattungsbetrag“ (§ 130b SGB V), verhandeln. Eine Verhandlung entfällt lediglich in den Fällen, in denen der G-BA das Arzneimittel einer Festbetragsgruppe zuordnet.
Auf Basis des Beschlusses des G-BA zum Zusatznutzen des neuen Arzneimittels finden Verhandlungen zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem GKV-VSV zur Vereinbarung eines Erstattungsbetrages statt. Der Erstattungsbetrag gilt ab dem 13. Monat nach dem erstmaligen Inverkehrbringen des Arzneimittels als neuer bundesweit gültiger und einheitlicher Abgabepreis für gesetzlich Versicherte wie auch Privatversicherte und Selbstzahler. Daher ist die Vereinbarung im Benehmen mit dem Verband der privaten Krankenversicherung abzuschließen. An den Verhandlungen nimmt auch ein Vertreter einer Krankenkasse teil, um praktische Erfahrungen zu Versorgungsaspekten einzubringen. Der Erstattungsbetrag ist durch die Unternehmen an die Preis– und Produktverzeichnisse zu melden. Dort ist er für Marktteilnehmer zur Orientierung einsehbar; für Krankenhäuser gilt er qua Gesetz im Einkauf als Höchstpreis.
Die Vorgaben der Verhandlung des Erstattungsbetrages richten sich nach dem Ergebnis der Nutzenbewertung durch den G-BA. Für Arzneimittel mit Zusatznutzen gelten andere Verhandlungsvorgaben als für Arzneimittel ohne Zusatznutzen. Die jeweiligen Vorgaben ergeben sich aus dem Gesetz, vor allem §130b SGB V, sowie aus der zwischen dem GKV-SV und den die für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen maßgeblichen Spitzenorganisationen der pharmazeutischen Unternehmer auf Bundesebene getroffenen Rahmenvereinbarung nach §130b Absatz 9 SGB V.
Nach der Rahmenvereinbarung wird der Erstattungsbetrag für Arzneimittel mit Zusatznutzen durch einen Zuschlag auf die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie vereinbart. Laut Gesetz sollen die Jahrestherapiekosten vergleichbarer Arzneimittel sowie die tatsächlichen Abgabepreise in anderen europäischen Ländern gewichtet nach den jeweiligen Umsätzen und Kaufkraftparitäten zusätzlich berücksichtigt werden. Für Arzneimittel, für die der G-BA keinen Zusatznutzen festgestellt hat, soll jedoch ein Erstattungsbetrag vereinbart werden, der nicht höher ist als die Jahrestherapiekosten der vom G-BA bestimmten zweckmäßigen Vergleichstherapie. Hat der G-BA mehrere gleichermaßen zweckmäßige Vergleichstherapien bestimmt, soll der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen als die wirtschaftlichste Alternative. Daneben gibt es bestimmte Fallkonstellationen, in denen Abschläge der Erstattungsbetrag durch Abschläge auf die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie oder auf den zuvor vereinbarten Erstattungsbetrag zu vereinbaren sind.
Für Arzneimittel, die in unterschiedlichen Patientengruppen jeweils einen unterschiedlichen Zusatznutzen oder keinen Zusatznutzen oder einen geringeren Nutzen aufweisen, ist aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung geklärt, dass ein sog. „Mischpreis“ zulässig ist, da die Nutzenbewertung zwar nach Patientengruppen unterscheide, jedoch einem Arzneimittel nach § 78 Abs. 3 S 1 Arzneimittelgesetz nur ein einheitlicher Abgabepreis zugeordnet werden dürfe. Bei der Festsetzung eines Erstattungsbetrages im Wege einer Mischkalkulation wird für Patientengruppen, für die der G-BA einen Zusatznutzen festgestellt hat, ein daran orientierter Betrag als sogenannter "Zuschlag auf die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie" angesetzt; für Patientengruppen, für die der G-BA keinen Zusatznutzen festgestellt hat, wird dagegen in der Regel lediglich ein Betrag in Ansatz gebracht, der die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht übersteigt (BSG, Urteil vom 04.07.2018, B 3 KR 21/17 R).
Neben dem Erstattungsbetrag sollen Vereinbarungen u.a. auch Voraussetzungen für eine indikationsgerechte, zweckmäßige und wirtschaftliche Verordnungsweise des jeweiligen Arzneimittels festlegen – auch im Kontext der Vereinbarung von Praxisbesonderheiten. Weitere Vertragsgegenstände wie mengenbezogene Staffelung oder ein jährliches Gesamtvolumen, sind der Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien überlassen. Die Vereinbarungen haben eine gesetzliche Mindestlaufzeit von einem Jahr; gesetzliche Sonderkündigungsrechte, beispielsweise aufgrund eines neuen Nutzenbewertungsbeschlusses, ermöglichen eine vorzeitige Lösung von der Vereinbarung.
Können sich die Verhandlungsparteien innerhalb von sechs Monaten nach Veröffentlichung des G-BA-Beschlusses nicht einigen, setzt eine Schiedsstelle innerhalb von drei Monaten die offenen Vertragsinhalte fest. Rechtsquellen für die Verfasstheit der Schiedsstelle sind §130b Abs. 9 SGB V, die Rechtsverordnung nach § 129 Absatz 10 Satz 2 SGB V sowie die Geschäftsordnung der Schiedsstelle nach § 130b Absatz 6 SGB V. Es gelten für ihre Entscheidungsfindung dieselben gesetzlichen und rahmenrechtlichen Vorgaben wie für die Verhandlungsparteien.
Die Schiedsstelle besteht aus sieben Mitgliedern: einem unparteiischen Vorsitzenden, zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern sowie je zwei Vertretern der Verhandlungsparteien. Die drei unabhängigen Mitglieder werden gemeinsam vom GKV-SV und die für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildeten maßgeblichen Spitzenorganisationen der pharmazeutischen Unternehmer benannt. Kommt eine einvernehmliche Bestellung auch nach Fristsetzung nicht zustande, erfolgt diese durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG). An den Sitzungen der Schiedsstelle können Patientenorganisationen beratend teilnehmen. Das BMG hat das Recht sowohl an der Beratung als auch an der Beschlussfassung der Schiedsstelle teilzunehmen. Dem Spitzenverband der PKV soll die Schiedsstelle vor ihrer Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme geben.
Auch die Schiedsstelle ist an den Beschluss des G-BA über die Nutzenbewertung gebunden. Für die Abstimmung der Schiedsstelle gilt das Mehrheitsprinzip. Da der durch die Schiedsstelle bestimmte Erstattungsbetrag regelmäßig später feststeht als sein gesetzlicher Geltungsbeginn, ist im Gesetz der Differenzausgleich zwischen dem von der Schiedsstelle festgelegten Erstattungsbetrag und dem tatsächlich gezahlten Abgabepreis bei der Festsetzung vorgesehen.
Die regulativen Vorgaben für Erstattungsbetragsvereinbarungen können im Einzelnen maßgeblich § 130b SGB V (Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung - AM-NutzenV) sowie im 5. Kapitel der Verfahrensordnung des G-BA und den dazugehörigen Anlagen entnommen werden.
Sowohl Nutzenbewertung wie auch der Erstattungsbetrag nach AMNOG haben sich in den mittlerweile 10 Jahren ihres Bestehens darin bewährt der Sicherstellung einer zweckmäßigen, qualitativ hochwertigen und wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung zu dienen und zur Gewährleistung der finanziellen Stabilität des deutschen Gesundheitssystems beizutragen. Insbesondere leistet die Nutzenbewertung einen wichtigen Beitrag zur Transparenz und Wissensgenerierung und damit zur Verbesserung der Arzneimittelversorgung. Zugleich konnten die Preisverhandlungen den Kostenanstieg für neue Arzneimittel unter Erhalt des unmittelbaren Zugangs zu neuen Arzneimitteln immerhin dämpfen. Doch noch immer steigen die Arzneimittelausgaben in Deutschland stark an: die Steigerungsrate der Arzneimittelausgaben liegt um mehr als ein Drittel über derjenigen aller Leistungsausgaben der GKV – überwiegend aufgrund Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen. Hierzu tragen in jüngster Zeit insbesondere die hohen Preise für neue patentgeschützte Arzneimittel, insbesondere mit neuen Behandlungsansätzen bei: Gerade in jüngster Zeit ist die Entwicklung neuer Arzneimittel von einer besonderen Dynamik geprägt. In kurzen zeitlichen Intervallen eröffnen sich völlig neue Behandlungsansätze bis hin zu Zell- und Gentherapien. Neue Behandlungsansätze wecken große Hoffnungen – insbesondere, wenn es sich um schwerwiegende oder gar bislang nicht behandelbare Erkrankungen handelt. Es ist absehbar, dass sich dieser Trend zu Zell- und Gentherapien und einer stärker individualisierten Medizin fortsetzt und zunehmend neben der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen auch den Bereich der sogenannten Volkskrankheiten erreichen wird. Insofern bedarf es einer Fortentwicklung des AMNOG, insbesondere für neuartige und hochgradig kostenintensive Arzneimittel wie Zell- und Gentherapien.
Dokumente und Links
- Übersicht zu den Verhandlungen der Erstattungsbeträge nach § 130b SGB V
- Rahmenvereinbarung nach § 130b Abs. 9 SGB V, rechtlich unverbindliche Lesefassung vom 04.05.2022 mit integrierter Änderungsvereinbarung zu § 6a und Anlage 6 (gültig ab 01.05.2022) (PDF, 755 KB)
- Positionspapier: Echte Arzneimittelinnovationen fördern und die Versorgung stärken (Stand: Juli 2021) (PDF, 233 KB)
- Fokus: Verhandlungen auf Basis des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG)