PRESSEMITTEILUNG - BERLIN, 22.05.2012 Studie belegt: Zuweisungen gegen Entgelt keine Einzelfälle - erhebliches Korruptionspotential

GKV-Spitzenverband

Fangprämien sind im deutschen Gesundheitswesen keine Ausnahme, sondern gängige Praxis, so beschreiben niedergelassene Ärzte, leitende Angestellte von stationären Einrichtungen sowie nicht-ärztliche Leistungserbringer die aktuelle Versorgungspraxis im Rahmen einer repräsentativen Studie im Auftrag des GKV-Spitzenverbandes. Statt medizinischer Argumente entscheiden offenbar oft Prämiengelder oder Sachleistungen, zu welchem Arzt, zu welcher Klinik oder welchem Hilfsmittelerbringer Patienten gelenkt werden. Ebenfalls erschreckend: Etwa jeder fünfte Leistungserbringer kennt oder interessiert sich für die jeweiligen berufs- und sozialrechtlichen Vorgaben, die Zuweisungen gegen Entgelt eindeutig verbieten, nicht.

Häufige Praxis für jeden fünften Arzt und jeden zweiten Hilfsmittelerbringer

Zuweisungen von Patienten gegen wirtschaftliche Vorteile sind üblich, meinten 14 Prozent der befragten niedergelassenen Ärzte und 35 Prozent stimmten dem zumindest teilweise zu. 20 Prozent von ihnen meinten, ein solches Vorgehen komme gegenüber anderen Ärzten oder Hilfsmittelerbringern häufig vor.

„Ich bin sicher, dass viele Leistungserbringer korrekt handeln. Wenn man aber durch die Selbsteinschätzung der Branche sieht, dass jeder fünfte Arzt die berufsrechtlichen Verbote nicht kennt und zugleich Zuweisungen gegen Entgelt auch als selbstverständlich ansieht, ist das ein Skandal. Denn das hieße, dass hochgerechnet mehr als 27.000 niedergelassene Vertragsärzte schon heute gegen das Berufsrecht verstoßen. Würde hier das Strafrecht angewendet werden, wäre klar, welches hohe Korruptionspotential im deutschen Gesundheitswesen besteht“, so Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes.

Als noch etablierter beschreiben Vertreter von stationären Einrichtungen und nicht-ärztliche Leistungserbringer Zuweisungen gegen Entgelt. Etwa ein Viertel (24 Prozent) der stationären Einrichtungen und fast jeder zweite (46 Prozent) nicht-ärztliche Leistungserbringer bezeichnete diese Praxis als üblich. Oft oder zumindest gelegentlich würden für Zuweisungen wirtschaftliche Vorteile gewährt bzw. angenommen, meinten 40 Prozent der stationären Einrichtungen. Bei den nicht-ärztlichen Leistungserbringern waren es sogar 65 Prozent, die nach der Verbreitung solcher Zuweisungen gefragt mit häufig oder gelegentlich antworteten.

„Die von den Studienteilnehmern wahrgenommene gängige Praxis der Zuweisungsvergütung lebt in vielen Fällen davon, dass das Entdeckungsrisiko für den einzelnen Akteur relativ gering und die Nachteile für den Berufsstand sowie das Gesundheitssystem insgesamt weit entfernt sind“, so Studienleiter Prof. Kai-D. Bussmann vom Economy & Crime Research Center der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Geber und Nehmer

Niedergelassene Ärzte und stationäre Einrichtungen treten nach Einschätzung der Branche sowohl als Geber wie auch als Nehmer auf; nicht-ärztliche Leistungserbringer hingegen nur als Geber. Als Anreize werden sowohl Geld aber auch Sachleistungen wie Tagungskosten oder Geräte angeboten bzw. angenommen, urteilten die Befragten. Bei niedergelassenen Ärzten und stationären Einrichtungen kämen auch prärespektive postoperative Vereinbarungen vor.

Drei Viertel der nicht-ärztlichen Leistungserbringer gaben an, dass ihnen durch die wettbewerbswidrige Praxis in den zurückliegenden zwei Jahren ein finanzieller Schaden beispielsweise durch Umsatzeinbußen entstanden ist. 32 Prozent berichteten über mittelschwere und 15 Prozent sogar über gravierende wirtschaftliche Nachteile. Vor allem Hörgeräteakustiker, Orthopädieschuhtechniker, -schuhmacher und Sanitätshäuser seien hiernach überdurchschnittlich stark betroffen.

Diejenigen niedergelassenen Ärzte, die von einem konkreten Angebot berichten konnten, suchten mehrheitlich keine Hilfe bei der Ärztekammer (nur elf Prozent) oder bei den von Ärzteschaft und Krankenhausvertretern bei den Landesärztekammern eingerichteten sogenannten Clearingstellen (drei Prozent). Dagegen wandten sich etwa ein Drittel der betroffenen nicht-ärztlichen Leistungserbringer an ihren Berufsverband.

„Fehlende Kontrollen und Sanktionen des jeweiligen Berufsstandes lassen Zuweisungen gegen Entgelt offenbar als risikoarmes Kavaliersdelikt erscheinen. Doch dem ist nicht so. Daher werden die gesetzlichen Kassen die neuen sozialgesetzlichen Möglichkeiten jetzt nutzen und z. B. über die Arbeit in den Zulassungsausschüssen Vertragsärzte notfalls sogar die Zulassung entziehen, wenn sie für Patientenzuweisungen Vorteile annehmen oder anbieten. Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass Ärzte eine bestimmte Klinik oder ein Labor aus medizinischen und nicht aus monetären Gründen empfehlen“, so Kiefer. „Klar ist angesichts dieser Studienergebnisse, wo die bestehenden berufs- und sozialrechtlichen Verbote nicht beachtet werden, müsste man als ultima ratio endlich auch das Korruptionsstrafrecht bei niedergelassenen Ärzten anwenden.“

Hintergrundinfos zur Studie

Die Studie entstand unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Kai-D. Bussmann vom Economy & Crime Research Centers der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie basiert auf einer Selbst- und Brancheneinschätzung medizinischer Leistungserbringer zur Kenntnis und Anwendung von Rechtsnormen sowie zur Praxis gezielter Zuweisungen. Im Herbst 2011 hat TNS Emnid Bielefeld dazu bundesweit 600 niedergelassene Fachärzte, 180 leitende Angestellte von stationären Einrichtungen (Krankenhäuser, Reha- und Kureinrichtungen sowie Pflegeheime) sowie 361 nicht-ärztliche Leistungserbringer (z. B. Apotheken, Sanitätshäuser, Hörgeräteakustiker oder Orthopädischumacher) telefonisch interviewt. Ergänzend wurde gezielt nach eigenen, konkreten Erfahrungen mit gezielten Zuweisungen gefragt – entweder als Nehmer oder als Geber. Anhand dieser Fallbeispiele sollten die vorher geäußerten Wahrnehmungen zum Verhalten der Berufsgruppe objektiviert werden.

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